Über die Tyrannei der Mehrheit
Large Language Models (LLMs) leisten, wenn sie Texte generieren, eine Vorhersage des statistisch wahrscheinlichsten Wortes. Aus der Tatsache, dass das vorhergesagte Wort oder der vorhergesagte Satz das wahrscheinlichste ist, lässt sich zum einen noch nicht schließen, ob er wahr oder falsch ist. Zum anderen führt die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten zu einer Bevorzugung der Mehrheitsmeinung. Wenn im Trainingsdatensatz die eine Wortkombination deutlich häufiger auftaucht als die andere, wird sie vom LLM bevorzugt; und auch, wenn die Annotator:innen ein bestimmtes Label häufiger vergeben als ein anderes, wird das häufiger vergebene Label bevorzugt und das der Minderheitenmeinung unterdrückt. Diese „Tyrannei der Mehrheit“ hat für mindestens zwei wichtige gesellschaftliche Felder Konsequenzen: Für die Wissenschaft und die Kultur.
Wenn wir uns vor Augen führen, wie Thomas Kuhn die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ und Pierre Bourdieu die Erneuerung kultureller Felder konzeptualisieren, wird deutlich, dass jedes neue wissenschaftliche Paradigma und jede künstlerische Avantgardebewegung mindestens zu Anfang eine Minderheitenmeinung darstellt. Es gibt eine dominante Mehrheitsmeinung, die Kuhn als paradigmatische „normal science“ und Bourdieu als „orthodoxe“ Kunstauffassung bezeichnet. Diese gesellschaftlichen Gruppen bilden in ihrem jeweiligen Feld den herrschenden Pol und werden in einem Wettbewerb von einer „revolutionären“ (Kuhn) oder „häretischen“ (Bourdieu) Position herausgefordert. Auf diese Entgegensetzung reagieren die Vertreter:innen der herrschenden Meinung häufig negativ: „Normal science, for example, often suppresses fundamental novelties because they are necessarily subversive of its basic commitments.“ (Kuhn, Structure, S.5). Was folgt, ist, soziologisch gesprochen, ein Kampf um Anerkennung, ein Ringen um die Zurückweisung eines älteren wissenschaftlichen oder künstlerischen Paradigmas und die Einführung eines neuen.
Das Kräftemessen zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Wissenschaftler:innen oder Künstler:innen kann zu verschiedenen Ergebnissen führen. Das neue Paradigma löst beispielsweise das alte vollständig ab und nimmt selbst eine dominante Position im Feld ein. Das etwa geschah bei der Erforschung der Syphilis, als Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals Krankheitserreger nachgewiesen werden konnten. Andere Möglichkeit: Zwei unterschiedliche wissenschaftliche Paradigmen (oder Kunstrichtungen) können nebeneinander koexistieren, so wie die Newton’sche und die Einstein’sche Mechanik; entscheidend ist hier, dass beide einen unterschiedlichen Bezugsrahmen haben, der sich wechselseitig ausschließt (so wie Wissenschaftler:innen häufig ja auch erst eine neue ‘Schule des Sehens’ herausbilden und neue Daten erheben müssen). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass zwei unterschiedliche Paradigmen nebeneinander existieren, ohne dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern. Das ist etwa bei den unterschiedlichen Interpretationen der Quantenmechanik der Fall: Die stochastische oder Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik bildet die Mehrheitsmeinung, während die deterministische oder Bohmsche Theorie eine Minderheitenmeinung darstellt. Im Feld der Kunst kann man hier etwa an die Überwindung der Tonalität und die Entwicklung der Zwölftontechnik durch Avantgardisten wie Arnold Schönberg und Alban Berg denken. Obwohl diese Technik später aufgegriffen wurde, entwickelte sie sich nicht zum dominanten Verfahren und wurde nie so recht massentauglich (während die Tonalität bis heute für die Mehrheit der Konsument:innen entscheidend ist). Die Langlebigkeit überkommener wissenschaftlicher Paradigmen bzw. ihrer Vertreter kommentierte Max Planck einmal ironisch mit den Worten: „Die Wissenschaft schreitet mit einer Beerdigung nach der anderen voran.“
Die Art und Weise, wie Kuhn und Bourdieu die Erneuerungsprozesse in den Feldern Wissenschaft und Kultur konzeptualisieren, rücken vor allem die gesellschaftlichen Vorgänge in den Fokus, die mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Revolutionen verbunden sind. Mit Blick auf LLMs und den mit einer künstlichen allgemeinen Intelligenz (AGI) verbundenen Hoffnungen ist das instruktiv: Derartige ‚Intelligenz‘ tendiert aufgrund ihrer Bauart zur Wiederholung der Mehrheitsmeinung und damit zur Repetition des dominanten Paradigmas (Feld der Wissenschaft) bzw. zum Gemeinplatz, zum Klischee, zur Banalität und zum Unauthentischen (Feld der Kunst). Das heißt nicht, dass die intelligenten Maschinen nicht dazu genutzt werden können, neue Paradigmen zu schaffen. ‚Von selbst‘ werden sie es aber nicht tun. Vielmehr wird deutlich, dass wir die scheinbar übermächtigen KIs im größeren Zusammenhang eines soziotechnischen Systems sehen müssen, in dem der Mensch als Agent nach wie vor eine zentrale Rolle spielt – auch dann, wenn er in der Minderheit ist.
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