Preisfrage: Openness vs. Arkanwissen im 21. Jahrhundert

Im Jahr 1798 schrieb die Königliche Societät der Wissenschaften in Göttingen im Reichs-Anzeiger folgende Preisfrage aus: “Wie können die Vortheile, welche durch das Wandern der Handwerksgesellen möglich sind, gefördert und die dabei vorkommenden Nachtheile verhütet werden?” Zwölf Preisschriften wurden begutachtet, u.a. durch Georg Christoph Lichtenberg und Johann Christian Blumenbach. Den ersten Preis erhielt ein gewisser Karl Friedrich Mohl, ehrenvoll erwähnt wurde die Abhandlung von Johann Andreas Ortloff. Die beiden ausgewählten Abhandlungen wurden 1798 publiziert; freundlicherweise hat die Bayerische Staatsbibliothek ein Digitalisat davon im Februar diesen Jahres online gestellt.

Hintergrund der Preisfrage ist ein Konflikt, den wir bis heute kennen; im Neudeutschen wird er als Spannungsfeld zwischen openness of knowledge vs. secretiveness as civic duty beschrieben. Wandernde Handwerksgesellen waren nämlich im 18. Jahrhundert wesentlich für den internationalen Wissens- und Technologietransfer verantwortlich. Wie aus den “zwo Preisschriften” deutlich wird, versprachen sich die mitteleuropäischen Nationalstaaten (und hier insbesondere die deutschen Kleinstaaten) Vorteile von der Migrationsbewegung der fahrenden Gesellen. Die Vervollkommnung ihrer Fachkenntnisse, das Wissen über spezifische Produkte anderer Länder oder über Vertriebswege, die Beschleunigung des Umlaufs, die Fähigkeit zu Innovation: Diese Profite sah man für die einzelnen Staaten, während die zünftisch organisierten Gesellen als Vehikel des Wissenstransfers angesehen wurden. Anders formuliert: Man erwartete von der Wanderschaft der Handwerker einen “Brain Gain”. Auch die Nachteile benennt Mohl: Schlecht ausgebildete oder schlecht vorbereitete Handwerker seien nicht in der Lage, sich Fachkenntnisse anzueignen; die Manufakturisten und Fabrikanten in den besuchten Ländern vereitelten durch ihre Insistenz auf Arkanwissen den Transfer.

Mit ChatGPT-4 stellt sich die Frage des 18. Jahrhunderts erneut: Wissenstransfer qua Arbeitsmigration gibt es heutzutage zwar nicht mehr; inzwischen sind alle an der Erstellung des KI-Werkzeugs beteiligten Entwickler vertraglich für viele Jahre zur Geheimhaltung verpflichtet. Aber: Openness ist ein Prinzip, das es gegenüber Risikokapital-finanzierten Unternehmen wie OpenAI zu verteidigen gilt. ChatGPT wurde auf speziellen Datensätzen trainiert, deren Erstellung aus Steuermitteln finanziert wurde und die z.B. von Kulturerbeeinrichtungen gemeinfrei ins Netz gestellt werden; offener Sourcecode — wie z.B. von GitHub — wurde ebenfalls kostenlos einverleibt; nur so ist es möglich, einfache Anwendungen schnell und effektiv zu entwickeln … und das erscheint magisch (“Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.”). ChatGPT-4 hingegen ist weder kostenfrei noch offene Freeware. Offensichtlich stellt es ein wertvolles Werkzeug dar; allerdings trägt es den Makel, dass es die intellektuelle Enteignung von Millionen developern voraussetzt und unter der vollständigen Kontrolle von Dritten steht. Im Gegensatz zu freier Software gibt es hier nicht einmal Sourcecode, den man untersuchen könnte. Mit ChatGPT-4 liegt ein System vor, das so vollständig abgeschlossen ist, wie man es sich aktuell überhaupt nur vorstellen kann: Eine absolute black box.

Daher schreibt das Projekt MMK folgende Preisfrage aus: “Wie können die Vorteile, die durch open source und open access möglich geworden sind, gefördert und die dabei vorkommenden Nachteile verhütet werden?” Die Preisschriften können gerne hier publiziert werden.

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