Offenheit und ihre Schattierungen
Offenheit, dieser Leuchtturm des 20. Jahrhunderts, wurde realisiert durch offene Schnittstellen (APIs). Im Falle von Galerien, Bibliotheken, Archiven und Museen (GLAMs) war es das Open Archives Initiative Protocol for Metadata Harvesting, kurz OAI-PMH. Die Idee war damals, eine Schnittstelle bereitzustellen, die Metadaten in interoperablen Formaten bereitstellt und so den Austausch zwischen verschiedenen Institutionen ermöglicht. Darüber hinaus wird das Harvesting verteilter, im XML-Format beschriebener Ressourcen möglich gemacht, die auf vom Anbieter definierte benannte Mengen beschränkt sein können. Auf die Objekte wird über URLs in den Metadaten verwiesen; so wird auch der Zugriff auf die Objekte selbst möglich. Grundsätzlich ist das Protokoll nicht darauf ausgelegt, zwischen den Nutzer:innen zu unterscheiden; Lizenzen und Rechteerklärungen können einbezogen werden, aber es ist nicht vorgesehen, bestimmtes Material vor dem Zugriff zu verbergen. Die Entscheidung, ob (und welches) durch Urheberrechte geschütztes Material verwendet werden soll, liegt letztlich bei den Nutzer:innen.
Das 21. Jahrhundert brachte dann ein neues Konzept: Datensouveränität. Dies bedeutet einerseits, dass die Daten den Gesetzen und Verwaltungsstrukturen unterliegen, die in dem Rechtsraum gelten, in dem die Daten gehostet werden; für die Datenhalter steht das Konzept andererseits stellvertretend für die Vorstellung, dass die Rechteinhaber selbst bestimmen können, was Dritte mit den Daten tun dürfen und können. Mit Blick auf die Situation, dass es nun einen zweiten Leuchtturm gibt – die Bereitstellung von Kulturerbe-Datensätzen für Innovation und Forschung –, der in stürmischen Zeiten Orientierung bietet, wird die Rolle der Kulturerbe-Institutionen als Zugangsvermittler greifbar: Wenn Rechteinhaber ihre (urheberrechtlich geschützten) Daten kommerziellen KI-Firmen nicht offen zur Verfügung stellen wollen, können GLAM-Institutionen als Datenanbieter Differenzierungen bei der Nutzung dieser Daten aushandeln. So können diese Daten beispielsweise von Start-ups, kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und Unternehmen aus dem Kulturbereich kostenlos genutzt werden, während für big tech-Unternehmen Gebühren anfallen würden. Interessanterweise sieht der europäische Data Governance Act einen solchen Fall vor und enthält ein entsprechendes Instrumentarium. Es gibt ein Kapitel über die Nutzung von Daten, die von öffentlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden (Kapitel II, Artikel 6), das die Bereitstellung von Daten gegen Gebühren regelt und eine Differenzierung der zu erhebenden Gebühren zwischen privaten Nutzer:innen, KMU und Start-ups einerseits und größeren Unternehmen andererseits ermöglicht, soweit sie nicht unter die erste Bedingung fallen. Damit wird eine Differenzierungsmöglichkeit für die kommerzielle Nutzung geschaffen, wobei sich die Gebühren an den Kosten der Infrastruktur zur Bereitstellung der Daten orientieren müssen. Für diese Fälle benötigen Kulturerbe-Institutionen neue Lizenzen (oder Rechteerklärungen), die darlegen, ob kommerzielle Unternehmen aufgrund der Opt-Out-Option der Rechteinhaber vom Zugang zu den Daten ausgeschlossen sind oder nicht; und die klären, ob große Tech-Konzerne durch die Zahlung von Gebühren Zugang erhalten, während Daten für Start-ups und KMUs kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Während dies die rechtliche Seite der Rolle von GLAM-Einrichtungen als Zugangsvermittler beschreibt, gibt es auch eine technische Seite der Datensouveränität, die durch den Begriff „Datenräume“ angesprochen wird. APIs wie OAI-PMH werden auch weiterhin den Austausch zwischen Institutionen gewährleisten, aber im Hinblick auf Datenbereitstellung für Dritte an Bedeutung verlieren (abgesehen von der Bereitstellung gemeinfreien Materials). Aufgewertet hingegen wird das Konzept der Datenräume, das von zentraler Bedeutung für die Politik der Europäischen Kommission in den kommenden Jahren ist. Ein geplanter Datenraum ist z.B. der European Data Space for Cultural Heritage, der in Zusammenarbeit mit Europeana entstehen soll; bereits bestehende vergleichbare Initiativen sind die European Open Science Cloud (EOSC) und die European Collaborative Cloud for Cultural Heritage (ECCCH). Eine technische Umsetzung eines solchen Datenraums ist GAIA-X, eine europäische Initiative für eine unabhängige Cloud-Infrastruktur. Neben einer Reihe anderer Funktionen ermöglicht sie es GLAM-Institutionen, ihre Daten vor Ort aufzubewahren und den Nutzer:innen der Infrastruktur verarbeitete Daten zur Verfügung zu stellen, nachdem sie einen Algorithmus ihrer Wahl auf die Daten der Kulturerbe-Institution angewendet haben: Anstatt Terabytes von Daten herunterzuladen und sie selbst zu verarbeiten, kann der Algorithmus (oder das machine learning-Modell) ausgewählt und zu den Daten gesendet werden. Ein Beispiel mit solchen Funktionalitäten hat die Staatsbibliothek zu Berlin mit dem CrossAsia Demonstrator entwickelt. Eine solche Infrastruktur ermöglicht nicht nur den Umgang mit Daten mit unterschiedlichen Nutzungsrechten, sondern erlaubt auch eine Differenzierung zwischen Nutzer:innen und Zahlungsdiensten. Mit anderen Worten: Sie gewährt die volle Souveränität über die Daten. Wie bei allen technischen Lösungen gibt es auch hier eine Kehrseite: Solche Datenräume sind in der Regel komplex und schwer zu handhaben, was für Kulturerbe-Einrichtungen eine Hürde darstellt und oft zusätzlichen Personalbedarf mit sich bringt.
Mit den Konzepten der Datenräume und der Datensouveränität verbunden (aber nicht an sie gebunden) ist die Idee der Allmende. Der englische Begriff „Commons“ bezeichnet eine gemeinsame Ressource, die von einer Gemeinschaft zum Nutzen ihrer Mitglieder verwaltet wird. Europeana, ein Meta-Aggregator und Webportal für die digitale Sammlung des europäischen Kulturerbes, konzeptualisiert den geplanten europäischen Datenraum für das Kulturerbe ausdrücklich als „an open and resilient commons for the users of European cultural data, where data owners – as opposed to platforms – have control of their data and of how, when and with whom it is shared“. Die hier gewählte Formulierung ist bezeichnend für einen Lernprozess in Bezug auf Offenheit: Die Definition eines offenen Gemeinguts „im Gegensatz zu Plattformen“ spricht ein Problem an, das für offene Allmenden charakteristisch ist, nämlich die Übernutzung der verfügbaren Ressourcen, die zu deren Erschöpfung führen kann. Bei den klassischen Beispielen für Allmenden wie Fischgründen oder Weideland ist die Ressource dann gefährdet, wenn Nutzer:innen versuchen, von ihr zu profitieren, ohne gleichzeitig zu ihrer Erhaltung beizutragen. Dies ist bei digitalen Ressourcen jedoch nicht der Fall. Das Problem liegt vielmehr im potenziellen Verlust des gemeinschaftlichen Nutzens aufgrund von Handlungen, die durch Eigeninteresse motiviert sind. Im 21. Jahrhundert hat der Aufstieg der großen Plattformen das so genannte „Paradoxon der Offenheit“ offenbart: „open resources are most likely to contribute to the power of those with the best means to make use of them“. Die Notwendigkeit von Datenräumen, die von einer Gemeinschaft zum Nutzen ihrer Mitglieder verwaltet werden, fügt der Offenheit nicht nur eine weitere Schattierung hinzu, sondern eröffnet gleichzeitig eine weitere Front: Die Abkehr von der Plattformisierung impliziert nämlich eine Ablehnung der Dominanz außereuropäischer big tech-Unternehmen.