Wessen Offenheit? Wessen Ethik?

Offenheit – oder „openness“ – kann als eine derjenigen Logiken beschrieben werden, die die zeitgenössische Wissenschaft und Kultur antreibt. Der Mechanismus dahinter ist recht einfach: Die Nationalstaaten nehmen einen Teil ihrer Steuereinnahmen und investieren sie in die Finanzierung von Wissenschaft und Kultur, in letzterem Bereich zum Beispiel in die Digitalisierung kulturellen Erbes. Im Gegenzug sind Forschungsorganisationen und Kultureinrichtungen dazu verpflichtet, Forschungsergebnisse und Daten öffentlich zugänglich zu machen, um Innovation, technischen Fortschritt und kulturelle Kreativität zu fördern. Dahinter steht die Absicht, dass die Gesellschaft von solchen Investitionen profitiert und diese somit dem Gemeinwohl dienen.

Im Bereich der Wissenschaft stärkt diese Offenheit eine Gegenposition zu klandestinem, verschlossenem Wissen. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass dies aus dem Zeitalter der Aufklärung und seiner Opposition gegen Zauberei, Hexerei und kirchliche Verlautbarungen resultiert. Beweisbarkeit, Transparenz und die Einbettung in ein Referenzsystem und eine wissenschaftliche Gemeinschaft sind seitdem zu einem Markenzeichen der Wissenschaft geworden. Dieses System hat sich das ganze 20. Jahrhundert hindurch bewährt, und Prinzipien wie die offene Zugänglichkeit wissenschaftlicher Literatur und offener Daten haben sich seither durchgesetzt.

In Bezug auf die Kultur – und wir beschränken unseren Blick hier auf das kulturelle Erbe – wird der gesellschaftliche Wert eines offen zugänglichen digitalisierten und digitalen Kulturerbes sichtbar, wenn wir uns z. B. das italienische öffentliche Recht ansehen, wie es im „Codice dei beni culturali e paesaggio“ formuliert ist. Es definiert drei Begriffe: „tutela“, was mit Schutz übersetzt werden kann, und „valorizzazione“ des kulturellen Erbes, was Verwertung, verbesserten Zugang und öffentliche Nutzung bedeutet und ebenso Valorisierung miteinbegreift. Der dritte Begriff, „fruizione“, zielt darauf ab, die kulturelle Entwicklung voranzutreiben. Er bietet eine zukunftsorientierte Perspektive, in deren Mittelpunkt die Schaffung neuer kultureller Werke steht. Erhaltung, Valorisierung und Schaffung von Kulturgütern werden hier in einen gemeinsamen Kontext gebracht, woraus sich zwei wesentliche Funktionen ergeben: Zum einen eine rückwärtsgerichtete Funktion des kulturellen Erbes, die auf die Integration der Gemeinschaft abzielt, und zum anderen eine in die Zukunft gerichtete Funktion, die auf die kulturelle Entwicklung des Einzelnen und der Gemeinschaft abzielt.[1]

Dieses Verständnis von Offenheit und die damit verbundene Ethik des Gemeinwohls, dem sie dienen soll, kann jedoch aus einer nicht-westlichen Perspektive in Frage gestellt werden. Indigene Gemeinschaften in Nordamerika haben, wie Robin Wall Kimmerer in ihrem wunderbaren Buch „Geflochtenes Süßgras“[2] erläutert, durch jahrhundertelange Beobachtung ein detailliertes botanisches Wissen entwickelt, das sie von Generation zu Generation weitergegeben haben. Der Ansatz dieser Gemeinschaften ähnelt der modernen Biologie, allerdings mit der Einschränkung, dass dieses Wissen von den Gemeinschaften genutzt werden darf, die es erarbeitet haben. Das Gleiche gilt für die traditionelle chinesische Medizin oder Sternenkarten, für das kosmologische Wissen der Azteken oder Landkataster, für ägyptische Quellen zum Bau von Pyramiden oder für das auf dem indischen Subkontinent typische System der ayurvedischen Alternativmedizin. Sicherlich ähnelt das traditionelle, an Gemeinschaften gebundene wissenschaftliche Wissen dem Wissen, das in den Geheimgesellschaften der frühen Neuzeit gesammelt wurde. Handwerker haben sich beispielsweise in Zünften wie den Compagnons du Devoir zusammengeschlossen, denen es ausdrücklich untersagt war, dieses Wissen an Nichtmitglieder der Organisation weiterzugeben.[3] Heutige indigene Gemeinschaften mögen für ihren Widerstand gegen Offenheit kritisiert werden – aber kann man sie aus einer dominanten westlichen Perspektive heraus zu Recht kritisieren, wenn sie beschließen, das von ihren Vorfahren überlieferte Wissen NICHT zu teilen?

Ein äthiopisch-orthodoxer Priester. Foto (c) Jörg Lehmann

Ein äthiopisch-orthodoxer Priester. Foto (c) Jörg Lehmann

In ähnlicher Weise können auch die Ideologie und die Praktiken hinterfragt werden, die der Digitalisierung kulturellen Erbes zugrunde liegen. Die äthiopisch-orthodoxe Kirche zum Beispiel hat ein völlig anderes Verständnis davon, was als „Original“ und was als„Kopie“ zu verstehen ist. Die Bundeslade, ein legendäres Artefakt, das die zehn Gebote enthält, soll Moses von Gott gegeben worden sein. Bis heute ist sie ein heiliger Text der äthiopisch-orthodoxen Kirche, und jede Kopie davon ist gleichwertig mit dem Original – die Heiligkeit ist an den Text gebunden, nicht an das Material. Diese Logik ist schon für sich interessant, da sie einen Gegensatz zur westlichen Verehrung des Originals bildet; jedoch bedeutet dies nicht zugleich, dass auch eine Digitalisierung befürwortet wird. Vielmehr kann die Digitalisierung von Manuskripten, die für das spirituelle Leben einer äthiopischen Gemeinschaft von Bedeutung sind, verweigert werden, wenn man die Bedeutung des kulturellen Erbes für die Integration der Gemeinschaft unterstreicht. Jedes Mitglied einer solchen Gemeinschaft hat also ein Wörtchen mitzureden, wenn es um die Nutzung solcher Archivalien geht: „The assumption is that any collection of manuscripts is the property of the entire community, both lay and ecclesiastical, and the opposition of even a single member may bring all digitisation activity to a sudden halt.“ Mit anderen Worten: Die Identität der Gemeinschaften kann durch erzwungene Offenheit gefährdet werden.

Ein solches Konzept stellt eine starke Gegenposition zur Betonung der Offenheit dar, die in den heutigen westlichen Gesellschaften vorherrscht. Sie zeugt nicht nur von einer Ethik, die bei dem allumfassenden Bestreben, kulturelle Ressourcen in digitaler Form zur Verfügung zu stellen und jedem und jeder den Zugang zu ermöglichen, zu beachten ist. Sie stellt auch einen bemerkenswerten Widerstand dagegen dar, zum Erfolg des minderheitenverschlingenden Projekts der Moderne beizutragen, das mitunter zum Verstummen von Gemeinschaften durch Integration geführt hat. Aus einer solchen Perspektive heraus wird die Digitalisierung eher als Engel der Apokalypse denn als Fackel der Erleuchtung betrachtet.

 

[1] Ausführliche Erläuterungen bei Sophie-Charlotte Lenski (2013). Öffentliches Kulturrecht: Materielle und immaterielle Kulturwerke zwischen Schutz, Förderung und Wertschöpfung, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 299–316.

[2] Robin Wall Kimmerer (2021). Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen, Berlin: Aufbau.

[3] Vgl. hier die Passage, die sich auf Artikel 49 der Ordnung der Compagnons bezieht, in: Günther Binding, Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, S. 116.

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