Über die Krise der Repräsentation

Der Westen hat ein sehr besonderes Verhältnis zur Authentizität. Der Kult des Originalen, Einzigartigen, Echten, Ungebrochenen hat hier eine lange Tradition. Das einzigartige Kunstwerk, das singuläre Objekt, das Auge als Spiegel der Seele, die Stimme als unvermittelter Selbstausdruck sind Signaturen dieses Kults. In nichtwestlichen Kulturen ist das anders. Religionen wie der äthiopisch-orthodoxe Glaube kennen bei heiligen Objekten keinen Unterschied zwischen Original und Kopie. Warum auch? Wenn die Bundeslade, jene Truhe, die die zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten enthält, als Symbol für den Bund Gottes mit dem Volk Israel und damit als heilig angesehen wird, gibt es für Gläubige keinen Grund anzunehmen, dass davon nur ein einziges Exemplar existiert, also dasjenige, das Moses vom Berg Sinai mitgebracht hatte. Vielmehr kann jede Truhe mit zwei Steintafeln, die mit den Zehn Geboten beschriftet sind, als geheiligte Repräsentation jener Mosaischen Bundeslade angesehen werden. Der Glaube hebt den Unterschied zwischen Original und Kopie auf.

Schon dieses Beispiel zeigt, dass ‘Authentizität’ ein soziales Konstrukt, eine Zuschreibung durch die Gesellschaft ist. Sie bemisst den Grad einer spezifischen gesellschaftlichen Anerkennung, die einer Person oder einem Objekt gewährt wird. Performative Akte oder Produkte eines Originalgenies unterliegen damit den Konjunkturen der Anerkennung und ihrem Auf und Ab im Zeitverlauf. Das Gemälde “Der Mann mit dem Goldhelm” ist so ein Beispiel dafür. Lange galt es als ein Werk Rembrandts, bis in den 1970er Jahren Zweifel an dieser Annahme aufkamen. Seit 1986 wird es als Produkt aus der Werkstatt Rembrandts angesehen und hat dementsprechend auf dem Kunstmarkt massiv an Wert verloren, unabhängig von der Qualität der Arbeit. Selbst wenn der Begriff ‘Kult’ wegen seiner religiösen Konnotationen als störend angesehen wird – wer an die Authentizität einer Person oder eines Werks glaubt, offenbart lediglich, dass er daran glaubt, dass es so etwas gibt.

Der Mann mit dem Goldhelm. Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie

Der Mann mit dem Goldhelm. Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie. Public Domain Mark 1.0
Umkreis: Rembrandt Harmensz van Rijn (1606–1669), Maler*in

Der Fotografie werden ebenfalls Qualitäten der Authentizität zugeschrieben. Selbst die sehr reflektierte und kritische Susan Sontag konstatierte noch 1977 in ihrem Essay “In Platos Höhle”: “Auch wenn es in gewisser Hinsicht zutrifft, dass die Kamera die Realität einfängt und nicht nur interpretiert […].” Die Formulierung “in gewisser Hinsicht” verweist darauf, dass es einmal eine Zeit gab, in der Lichtstrahlen auf eine lichtempfindliche Schicht trafen, auf der Silberbromid aufgetragen worden war. Beim anschließenden Fixieren im Fotolabor werden die nicht belichteten Silberhalogenid-Körnchen herausgewaschen; übrig bleibt etwas, was lange als Abbildung der Realität angesehen wurde, jedenfalls so lange, wie es Filme und damit physische Träger einer wie immer gearteten lichtempfindlichen Schicht gab. Mit dem Aufkommen einer neuen Technologie, der Digitalfotografie, wurde diese Auffassung jedoch obsolet, jedenfalls aus technischer Sicht. Ob ein digitales Foto aus einer authentischen Aufnahme einer realen Situation resultiert oder ob es ein synthetisches Produkt ist, das mittels einer Bildbearbeitungssoftware hergestellt wurde, können seither nur noch die Metadaten klären. Die jüngste technische Entwicklung in diesem Bereich, Text-zu-Bild-Generatoren wie Stable Diffusion, DALL·E oder Midjourney, verweisen den Unterschied zwischen authentischer Aufnahme und synthetischer Generierung bei digitalen Bildern in den Bereich der (Film-)Theorie. Konsequenterweise können nicht einmal Expert:innen den Unterschied zwischen einer Abbildung der Realität und den Produkten generativer AI erkennen. Im April 2023 gewann ein Fotograf bei den Sony World Photography Awards mit einem AI-generierten Foto einen Preis; die Jury hatte es für ein ‘authentisches Foto’ gehalten. Und im Juni 2024 gewann ein Fotograf einen “AI Image Contest” mit einem ‘realen’ Foto.

“Was soll man eigentlich noch glauben?” Diese Frage stellt sich uns in Zeiten generativer AI wieder neu. Eine neue Technologie löst wieder eine veritable Krise der Repräsentation aus. In einer Informationsgesellschaft sorgt Desinformation durch synthetisch generierte Inhalte wie fake news, deepfakes, bots auf social media oder AI-generierte Berichte von realen Ereignissen, wie z.B. in der Sportberichterstattung, massive Verunsicherung aus. Die Ununterscheidbarkeit von synthetisch hergestellten und von Menschenhand geschaffenen Inhalten stellt das zentrale Dilemma des Zeitalters der (Des-)Information dar. Eine Krise der Repräsentation gab es in der Menschheitsgeschichte gleichwohl schon häufiger, nämlich immer dann, wenn neue Medien das in Frage stellten, was Menschen als ‘authentisch’ anerkannten. Im Ersten Weltkrieg beispielsweise sorgte die rasche Entwicklung der Fotografie für neue Möglichkeiten der Fernerkundung und Kartographie. Während die Zeitgenossen durch diese damals neue Form der Repräsentation verunsichert waren, wie Paul Virilio in “Krieg und Kino” beschreibt, haben die direkt durch Geländeerkundung am Boden aufgenommenen Daten, die zur Analyse weiterer Daten wie z.B. Luftaufnahmen oder Satellitenbilder genutzt werden, mittlerweile einen neuen Begriff erhalten: “Ground Truth”. Dieser Terminus offenbart nur einmal mehr, dass der Glaube daran, was als wahr und authentisch gehalten wird, eine gesellschaftliche Konvention ist. Neu an der aktuell einsetzenden Krise der Repräsentation ist vor allem das Ausmaß: Generative AI kann, wie jede machine learning-Anwendung, ihren Output beliebig skalieren, wenn sie mit den entsprechenden Ressourcen hinterlegt wird. Synthetisch erzeugte Inhalte sind daher in der Lage, die mediale Welt, in der wir jetzt leben, in bislang noch nicht gekanntem Ausmaß zu überfluten.

Auf wenig überraschende Art und Weise befeuert dieser Vorgang Verschwörungstheorien und Überwältigungsängste, die von der Gefahr der Wahlmanipulation über die Zerstörung des Gegensatzes zwischen wahr und falsch bis hin zum Verlust einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit reichen. In den aktuellen Debatten werden dabei jedoch naheliegende Entwicklungen übersehen: Während die Erregung sich vor allem auf das inauthentische ‘Fälschen’ der Realität richtet, werden die sehr wahrscheinlichen Zukünfte einer Variierung der Wirklichkeit (noch) nicht antizipiert. Welchen Begriff werden wir beispielsweise für die synthetisch erzeugte zielgruppengerechte Formulierung politischer Inhalte im Sinne eines ‘targeted advertising’ finden, und welchen für das (bislang fiktive) Beispiel einer Ansprache der Präsidentin der Europäischen Kommission, die in den 24 Amtssprachen der EU gesendet wird, während alle EU-Bürger wissen, dass Frau von der Leyen diese nicht alle beherrscht? Siehe hier bereits Jon Finger auf YouTube

Wir werden also lernen müssen, mit bislang ungekannten Varianten des Authentischen umzugehen. Und wie in früheren Zeiten auch gibt es Heilmittel gegen die Verunsicherung: Vertrauen, verstanden als sozialer Kitt, der den Glauben an Authentizität herstellt. Sozial gesehen stellt das Vertrauen in Personen und Institutionen ein solches Heilmittel dar, wenn das Vertrauen sich auf die Erfahrung erfüllter Erwartungen und von Verlässlichkeit stützt. Und technische Arzneien werden durch Verfahren gewährleistet wie dem International Standard Content Code, der sowohl die Integrität auf Dateiebene wie auch die Authentizität auf Inhaltsebene gewährleistet, durch Wasserzeichen, elektronische Signaturen oder, im Hinblick auf die Fotografie, durch die C2PA-Spezifikation, die Provenienz- und Authentizitätsnachweise maschinenlesbar in den Metadaten abspeichert, die Bildern und Videos beigegeben werden. Indes sind Heilmittel, oder pharmaka, Ergebnisse von Wissenstechnologien, die helfen und heilen oder, falsch angewandt oder dosiert, schaden oder töten können. Es bleibt daher abzuwarten, ob und wie das Vertrauen in Personen und Institutionen in der Zukunft wirken wird.

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