Orientierung in stürmischen Zeiten
Kulturerbe-Institutionen wie Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen (GLAMs) befinden sich aktuell in einer schwierigen Situation: Generative KI-Modelle haben die Bedeutung des Begriffs „Offenheit“ fundamental verändert. Die offene Bereitstellung des digitalen Kulturerbes markierte bis vor kurzem ein absolut gesetztes Ideal, ebenso wie der Schutz geistigen Eigentums (intellectual property rights, IPR). Zwischen diesem Gegensatzpaar gibt es eine Grauzone mit vielerlei Abstufungen, und Handreichungen bieten Orientierung, um im Zweifelsfall zwischen diesen Oppositionen hindurch navigieren zu können. Offenheit soll es ermöglichen, auf der Grundlage des vorhandenen kulturellen Erbes Kultur neu zu schaffen sowie Innovation und Forschung zu stimulieren, idealerweise durch die Bereitstellung von Material, das gemeinfrei ist. Mit den Verlagshäusern als den Trägern von Urheberrechten können Kulturerbe-Einrichtungen Lizenzvereinbarungen treffen. Bislang verstanden Kulturerbe-Einrichtungen ihre Rolle daher als Vermittler, die schöpferfreundliche Urheberrechte und Zugänglichkeit ausbalancierten.
Die Entwicklung generativer KI-Anwendungen vor allem in den 2020er Jahren hat diese Situation deutlich verkompliziert: Wie verhalten sich generative KI und geistiges Eigentum zueinander? Dürfen solche Modelle mit urheberrechtlich geschütztem Material trainiert werden? Können Träger von Urheberrechten es versagen, dass ihr Material zum Training von machine learning-Anwendungen verwendet wird? Wer hat das Urheberrecht am Output dieser Modelle? Dürfen bestimmte kommerzielle Unternehmen von der Nutzung urheberrechtlich geschützten Materials ausgeschlossen werden, während es anderen (kommerziellen) Nutzern ermöglicht wird? Kulturerbe-Einrichtungen müssen nun zwischen den Ungeheuern Skylla (Schutz geistigen Eigentums) und Charybdis (Restriktionen für kommerzielle Unternehmen) hindurchnavigieren. Dass es jetzt zwei Leuchttürme von Messina gibt (Offenheit für alle und Bereitstellung von Kulturerbedatensets für Innovation und Forschung), macht die Sache nicht einfacher.
Karl Friedrich Schinkel, „Meerenge bei Messina, Scylla und Charybdis“. Public Domain, Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin
Das früher existierende Oppositionspaar, das oft ein Dilemma darstellte (d.h. eine Zwickmühle, bei der jede Entscheidung für eine der Oppositionen zu einem unerwünschten Ausgang führt), wird nun von vier Polen abgelöst – mit deutlich mehr Handlungsoptionen: Bejahen, Verneinen, Beides, keins von beiden. Diese tetralemmatische Situation ist gerade bei wissenschaftlichen Bibliotheken eklatant, denn sie verfügen über einen Schatz, der immer kostbarer wird: Digital vorhandene Bücher mit syntaktisch und lexikalisch korrekten Texten aus vertrauenswürdiger Quelle wie einer Kulturerbe-Institution oder Verlagen sind zu einer erschöpflichen und in naher Zukunft umkämpften Quelle für das Training von Large Language Models geworden. Einer Studie zufolge werden hochqualitative Textdaten im Englischen noch vor dem Jahr 2026 erschöpft sein, für die anderen Weltsprachen wird der Zeithorizont wohl kaum viel länger sein. Auch die Bestände an gemeinfreien Werken, die permanent von den Bibliotheken digitalisiert werden, steigen daher aktuell an Wert – ironischerweise aber auch Texte, die eigentlich Open Access zur Verfügung stehen, und für die sich die großen Verlagshäuser in naher Zukunft Nutzungsrechte sichern werden, um damit ihre eigenen Modelle herstellen zu können. Bibliotheken, die mit Verlagen Lizenzvereinbarungen getroffen haben, um auch urheberrechtlich geschützte Werke in digitaler Form bereitstellen zu können, haben dann ein Problem, wenn in den Lizenzvereinbarungen eine entsprechende Regelung die Nutzung geschützter Inhalte für Trainingszwecke explizit ausgeschlossen wird. Wenn es dazu keine Aussage gibt, ist es je nach nationalem Kontext geboten, die Ansprüche der Rechteinhaber:innen zu schützen. Die Nationalbibliothek der Niederlande (KB) hat daher kommerzielle Unternehmen vom Download solcher Ressourcen ausgeschlossen, da zu befürchten steht, dass solche Unternehmen das Urheberrecht missachten, und die KB hat ihre Nutzungsbedingungen aktualisiert. Das ist insofern ungewöhnlich, als bislang nicht zwischen verschiedenen Nutzenden unterschieden wurde. Rechtlich kann ein solches Vorgehen problematisch sein, wenn damit der Zugang zu gemeinfreiem Material unterbunden wird. Technisch stellt das Blockieren von Crawlers nur eine Notlösung dar, denn wirksam können Crawler nicht von den bereitgestellten Inhalten ausgesperrt werden; rechtlich muss bei einem Verstoß auch gegen eine unerlaubte Verwendung vorgegangen werden. Und schließlich: Ist es ethisch richtig, kommerzielle Unternehmen von bestimmten Inhalten auszusperren? Schließlich werden damit ja auch Startups, kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) sowie Unternehmen der Kreativindustrie getroffen. Wie ließe sich denn legitim zwischen big tech-Unternehmen und den kleineren Playern differenzieren?
Es ist nicht überraschend, dass Unklarheit über die rechtlichen Rahmenbedingungen besteht: Häufig hinkt die Gesetzgebung hinter der Realität hinterher. Noch in diesem Jahr soll der mit einem Kompromiss ausgehandelte AI Act verabschiedet werden und in Kraft treten. Wie werden die Regelungen hier aussehen – und schaffen sie wirklich Klarheit? Von Entitäten, die AI-Anwendungen entwickeln und in der EU operieren, wird verlangt, dass sie eine „policy to respect Union copyright law“ entwickeln. Die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken für das Training von KI-Modellen wird mit der text and data mining (TDM) Ausnahme in Artikel 4 der „Directive on Copyright in the Digital Single Market“ verbunden. Damit dürfen KI-Modelle mit urheberrechtlich geschütztem Material trainiert werden. Allerdings sieht die zitierte Direktive auch die Möglichkeit vor, dass Rechteinhaber sich ihre Rechte vorbehalten, um text and data mining zu verhindern: „Wenn die Vorbehaltsrechte ausdrücklich und in geeigneter Weise vorbehalten wurden, müssen Anbieter von KI-Modellen mit allgemeinem Verwendungszweck eine Genehmigung von den Rechteinhabern einholen, wenn sie Text und Data Mining bei solchen Werken durchführen wollen.“ Das ist der Punkt, wo es schwierig wird: Bislang gibt es dazu keinen einheitlichen Rechtsweg, und es ist unklar, entlang welchem (technischen) Standard oder Protokoll das Recht auf Opt-out in maschinenlesbarer Form formuliert werden soll. Daher überrascht nicht, dass auch eine gemeinnützige Organisation wie Creative Commons die Forderung aufgestellt hat, dass die Möglichkeit, sich gegen eine solche Nutzung zu entscheiden, zu einem einklagbaren Recht wird.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich Kulturerbe-Einrichtungen vom Ideal der Offenheit verabschieden müssen, jedenfalls sofern es absolut gesetzt wird. Vielmehr sind hier Abstufungen hinzuzufügen: Offen für private Nutzer*innen sowie die Forschung, aber nicht für die Kulturindustrie, Startups, kleine und mittlere Unternehmen sowie kommerzielle AI-Unternehmen, wenn die Rechteinhaber dies wünschen. Ganz pragmatisch bedeutet dies zunächst einmal, dass zahlreiche Lizenzverträge nachverhandelt werden müssen, um die Position der Rechteinhaber in eindeutiger Weise zu dokumentieren. Dennoch bleiben viele Fragen offen: Wie verhält es sich mit den zahlreichen Werken, bei denen die Nutzungsrechte nicht eindeutig geklärt sind? Gibt es die Möglichkeit, zwischen KMUs und big tech-Unternehmen zu differenzieren, oder gilt einfach nur pauschal „NoAI“? Sollte es dazu nicht auch eigene Lizenzen geben? Wer übernimmt die Entwicklung technischer Standards und Protokolle, um den Opt-out maschinenlesbar umzusetzen? Wer ist dafür zuständig, das „Machine Unlearning“ von Modellen zu veranlassen, die bereits mit urheberrechtlich geschützten Werken trainiert wurden?
Was die GLAM-Institutionen aktuell benötigen, sind zum einen neu verfasste Lizenzen und Nutzungsrechte sowie Weißbücher und technische Lösungen, zum anderen die Finanzierung von Expertengruppen und Juristen, die zu diesen Themen beraten und über die unterschiedlichen Funktionen von Lizenzen, Nutzungsbedingungen und Nutzungsrechten informieren. Und schließlich gehört dazu auch eine politische Beratung von Entscheidungsträgern, um auf nationaler und europäischer Ebene Einfluss nehmen zu können. Das entspricht zusammengenommen nicht weniger als einer Orientierung gebenden Kartierung, um zwischen den beschriebenen zwei Ungeheuern und den zwei Leuchttürmen hindurchnavigieren zu können.